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In dog we trust
Februar 9, 2025 | Allgemein | Leave a Comment
Von Hunden, Helden und Halunken
Jeder Park, der etwas auf sich hält, hat irgendwo eine Statue herumstehen. Je nach Neigung und persönlichem Geschmack der Parkinhaber hält mal ein überdimensionierter Engel einen gefallenen Soldaten in den Armen, während ihm zu Füßen das Pferd malerisch zusammenbricht oder ein Feldherr äugt streng zum Rhododendron, was dem Rhododendron in den meisten Fällen allerdings herzlich egal ist. Im Central Park in New York stehen 29 Statuen. Und eine davon bildet einen Hund ab. Dies ist die Geschichte dieses Hundes.
1925 brach in Alaska, in einem Kaff am Rand der Welt namens Nome, die Diphtherie aus. Damals nannte man die Krankheit „Würgeengel der Kinder“ – ein perverses Bild, oder? Ein würgender Engel. Was den Kindern tatsächlich die Luft abschnitt, waren lederartige braune Beläge in der Luftröhre, die die Diphtherie aus abgestorbener Schleimhaut und Blut zusammenbastelte. Dass die Sache ohne medikamentöse Behandlung nicht gut ausgehen kann, dürfte einleuchten. Hoch ansteckend ist der Würgeengel auch noch.
Der Ort wurde unter Quarantäne gestellt, was den Kindern in Nome nicht unbedingt weiterhalf. Dass aufgrund des erhöhten Bedarfs die Medikamente rapide zur Neige gingen, verschärfte die Situation weiter. Katastrophal wurde sie durch den Umstand, dass es zwar noch Medikamente gab, aber in Anchorage. 1.600 Kilometer entfernt.
1925 existierte keine Straßenverbindung zwischen Anchorage und Nome. Was nicht verwundert, 1925 gab es auch noch nicht sehr viele Autos. Mit einem modernen Passagierflugzeug legt man die Strecke in eineinhalb Stunden zurück; damals waren moderne Passagierflugzeuge allenfalls eine wilde Phantasie von Orville Wright (Wilbur war schon 1912 gestorben) und die vorhandenen Flugzeuge schienen eher ungeeignet, in winterlichen Schneestürmen und Temperaturen bis -50°C den Himmel zu stürmen.
Von Anchorage bis Nenana konnten 300.000 Medikamentendosen mit der Bahn transportiert werden, die restlichen 1.085 Kilometer von Nenana bis Nome waren das Problem.
In Nome lebte ein aus Norwegen stammender Mann namens Leonard Seppala mit seiner Familie. Seppala, der glücklose Goldsucher, hatte sich schnell darauf verlegt, das Gold der anderen zu transportieren und wurde ein sehr erfolgreicher Musher. Traditionell wurden die Hundeschlitten von Malamutes gezogen; kräftige, große und eigensinnige Hunde. 1909 brachte ein sibirischer Pelzhändler die ersten sibirischen Huskys nach Nome und nahm mit ihnen an Rennen teil.
Die Fachwelt belächelte die „kleinen“ Hunde – ich nehme an, das Alaska-Äquivalent für „halbe Portion“ dürfte des Öfteren gefallen sein – doch die kleinen Hunde schnitten bei den Rennen gut ab und Seppala erkannte schnell den Vorteil eines leichten Hundes mit kleinen Pfoten. Seppala begann Huskys zu züchten.
Einer seiner Welpen – der Name war Togo – war ein kränkliches, schmächtiges Tier. Seppala war überzeugt, Togo wäre als Schlittenhund nicht zu gebrauchen und gab ihn an einen Nachbarn ab. Wo Togo postwendend durch das geschlossene Fenster sprang und nach Hause zu Seppala lief. Togo war äußerlich ein Husky, aber innen größer als außen und mindestens so eigensinnig wie ein Malamute. Zu jung, um im Geschirr mitzulaufen, büxte er zu Hause aus und lief dann eben eigenmächtig neben dem Schlitten her. Seine Rauflust stand seiner Bewegungsfreude nicht nach und um ihn von weiterem Blödsinn abzuhalten, nahm Seppala ihn mit acht Monaten mit ins Geschirr. Auf seiner ersten Tour lief Togo 120 Kilometer. Kein Musher hatte jemals von einem solchen Hund gehört. Togo war der geborene Leithund. Seppala und Togo wurden ein legendäres Gespann.
1925, als die Stadt im Sterben lag, waren letztlich Schlittenhunde die einzige Hoffnung. Auch für Sigrid, die achtjährige Tochter von Seppala. Eine Hundestafette von 20 Musher mit ihren Gespannen – insgesamt 100 bis 150 Hunde – wurde zusammengestellt. Nicht wenige Hunde kamen aus der Zucht von Seppala.
Normalerweise hätte ein Hundeschlitten 30 Tage für die Strecke Nenana – Nome benötigt. Der Rekord lag bei neun Tagen. Da bereits die Beschaffung der Medikamente eher schleppend lief, wurde die knappe Zeit noch knapper und als die Medikamente endlich in Nenana eintrafen und das ursprünglich vorgesehene Transportflugzeug (absehbar, wie ich meine) festgefroren am Boden stand, waren noch genau sechs Tage übrig, bevor das Ablaufdatum des Serums die 300.000 Einheiten unbrauchbar gemacht hätte.
Die Strecke wurde unter den Musher in einzelne Abschnitte von 50 bis 80 Kilometern Länge aufgeteilt.
Am 27. Januar übernahm Wild Bill Shannon das Serum am Bahnhof von Nenana.
Es ist 21:00 und -46°C und Wild Bill rennt neben dem Gespann, anstatt auf dem Schlitten zu fahren, um nicht zu erfrieren. In einem Ort namens Minto macht Wild Bill eine Pause; er muss ausruhen. Wenigstens ein wenig. Bei -52°C rennt er weiter; drei seiner Hunde muss er zurücklassen, ihre Lungen sind der Anstrengung nicht gewachsen. Nach 82 Kilometern hat Wild Bill schwere Erfrierungen im Gesicht und übergibt die kostbare Ladung an den nächsten Musher, Dan Green.
Trotz der widrigen Wetterverhältnisse funktionieren die Telegrafenmasten und von jeder Station wird gemeldet, wenn der Musher angekommen ist. Die Welt schaut gebannt auf das Rennen der Männer und ihrer Hunde gegen die Kälte, die Zeit und den Tod.
Seppala und Togo haben den längsten und gefährlichsten Streckenabschnitt von 145 Kilometern übernommen. Seppala ist 47, Togo 12 Jahre alt. Die Blüte ihrer Jahre ist seit geraumer Zeit vorbei; was ihnen an Leistungsfähigkeit fehlt, muss der Wille ausgleichen.
Das Gespann hat bereits über 200 Kilometer – teils über die vereiste Beringstraße – zurückgelegt, um die Medikamente in Empfang zu nehmen. Nun muss Seppala entscheiden, ob er den Landweg nimmt – was ihn einen Tag gekostet hätte – oder nochmal die Beringstraße überquert. Die Temperatur lag bei -30°C und ein Blizzard nahm ihm die Sicht. Durch den Sturm war das Eis teils aufgebrochen und an vielen Stellen zeigte sich die offene See. Und es war Nacht. Seppala hatte keine Chance, den Weg über das Eis zu finden. Aber Togo. Zum zweiten Mal überquerte das Gespann die Beringstraße.
In Golovin, 125 Kilometer vor Nome, übergibt Seppala das Serum an den nächsten Musher.
An vorletzter Stelle der Stafette war ein gewisser Gunnar Kaasen mit seinem Leithund Balto – auch aus der Zucht von Seppala – eingeteilt. Kaasen und Balto waren keineswegs ein legendäres Gespann, aber man traute ihnen zu, eine der kurzen Strecken bewältigen zu können. Ein mittelmäßiges, aber ausgeruhtes Gespann hatte eine bessere Chance, als ein zu Tode erschöpftes.
Kaasen war wohl auch ausgeruht genug, um über den Unterschied zwischen dem undankbaren vorletzten Platz in der Stafette und dem triumphalen Einzug des letzten Mushers in Nome nachzudenken. Und über den Zusammenhang der Vermarktung von Ruhm und Ehre mit oder ohne Teilnahme an einem zentralen Ereignis der Berichterstattung.
Jedenfalls scheiterte Kaasen an der Übergabe der Medikamente an den letzten Musher. Er habe, so seine Behauptung, wegen des heftigen Schneefalls den Übergabeort an das letzte Gespann nicht gefunden. Menschen, die am Übergabeort warteten, gaben später zu Protokoll, er habe auch nicht gesucht. Wie die das beurteilen konnten, kann ich nicht beurteilen. Ob Kaasen gelogen hat, auch nicht. Aber zuzutrauen wäre es ihm zweifellos.
Ob nun geplant oder ungeplant – es ist Kaasen mit Balto, der morgens um 05:30 Uhr mit den rettenden Medikamenten auf die Hauptstraße in Nome einbiegt. Wo er bereits von der Presse erwartet – einige Dinge ändern sich nie – und gefeiert wurde. Als der Held, der er nicht war. Jedenfalls nicht mehr, als die meisten anderen Musher und definitiv weniger, als Seppala und Togo. Was aber in der Berichterstattung niemanden interessierte – wie gesagt, einige Dinge ändern sich nie.
Kaasen verfolgte seine Strategie der maximalen monetären Ausbeutung seines Heldentums und entwickelte eine ausgeprägte Frühform von Mediengeilheit. Wobei die Medien ihn mehr als willig unterstützten. Und Balto, der äußerlich mehr dem läppisch-täppischem Typ Kuschelhund entsprach, als der doch ein wenig wolfsähnliche Husky, wurde zum Liebling der Massen und zum Gesicht der heldenhaften Hunde, die ein Örtchen am Rande der Welt gerettet hatten. Baltos Heldenverehrung gipfelte in einer Statue im Central Park. Dort steht sie heute noch. In den Sockel ist eingemeißelt:
Dedicated to the indomitable spirit of the sled dogs that relayed antitoxin six hundred miles over rough ice, across treacherous waters, through Arctic blizzards from Nenana to the relief of stricken Nome in the Winter of 1925.
Endurance · Fidelity · Intelligence
Dem unbezwingbaren Geist der Schlittenhunde gewidmet, die im Winter 1925 Antitoxin sechshundert Meilen über raues Eis, tückische Gewässer und durch arktische Schneestürme von
Nenana zur Rettung des geschlagenen Nome transportierten.
Ausdauer · Treue · Intelligenz
Ausdauer zeigte auch Kaasen, der die Hunde bis zum Erbrechen vermarktete. Er tingelte mit dem Gespann durch die USA, bis das mediale Interesse zum Erliegen kam. Wie das mit medialem Interesse so ist.
Hinsichtlich der Treue hielt Kaasen sich allerdings bedeckt. Als mit Balto auf Tingeltour kein Geld mehr zu machen war, verkaufte Kaasen die Hunde an ein Dime Museum in Los Angeles. Es handelte sich, kurz gesagt, um eine Freak-Show. Für 10 Cent konnte man die Unglücklichen begaffen, denen die Natur grausame Streiche gespielt hatte. Und im Hinterzimmer, heiß und ohne Tageslicht, waren Balto und das Gespann an die Wand gekettet.
Ein Geschäftsmann aus Cleveland – der ein freundliches Herz hatte, weshalb wir nicht nachfragen, was er im Rotlichtbezirk von Los Angeles zu suchen hatte – sah im Schaukasten des „Museums“ ein Foto von Balto und erkannte ihn sofort. 10 Cent später war er schwer erschüttert. Mit der Hilfe eines befreundeten Verlegers machte er Baltos trauriges Schicksal bekannt. Eine Spendenaktion wurde ins Leben gerufen. Der Verkäufer forderte 2.000.- Dollar. Gemessen an der Kaufkraft entspricht diese Summe heutigen 34.000.- Dollar. Viel Geld.
Der Verleger blieb an der Sache dran und Balto war wieder für eine Geschichte gut. Der läppisch-täppische Kuschelhund mit den traurigen Augen rührte die Menschen. Ganz Cleveland spendete. Kinder spendeten ihr Taschengeld. Arme Menschen gaben, was sie entbehren konnten, reiche Menschen, was gerade übrig war. Viele Pennys und Dimes landeten in den Spendenboxen. Innerhalb kurzer Zeit kamen tatsächlich 2.362,94 Dollar zusammen. Die Hunde wurden freigekauft und mit der Bahn nach Cleveland geschickt. Als sie in Cleveland eintrafen, wurden sie von 15.000 begeisterten Menschen in Empfang genommen. Und zogen brav ein Wägelchen durch die Straßen, ließen sich brav fotografieren und inmitten von Menschenmengen demütig streicheln.
Für die Hunde wurde im Cleveland Zoo ein ziemlich großes Freigehege eingerichtet. Sogar mit einem Baum; man höre und staune. Auf ihren regelmäßigen Runden durch den Zoo waren sie regelmäßig von einer Traube von Menschen umringt. Jeder wollte sie einmal anfassen. Und tat das auch.
Ich weiß nicht, ob Balto und seine Gefährten im Zoo glücklich werden konnten. Ich meine, dass ein Hund ohne diesen einen besonderen Menschen, der für ihn die ganze Welt bedeutet, eher nicht glücklich ist. Ich möchte glauben, dass es mehr als nur praktische Gründe waren, die die Hunde veranlassten, sich den Menschen anzuschließen. Es existiert die Behauptung, Schlittenhunde wären eher nicht so geneigt, Bindungen zu Menschen einzugehen, da sie historisch eine Währung darstellten. Sie wurden verkauft, getauscht, ausgeliehen – alles Dinge, bei denen eine Bindung eher hinderlich wäre. Nun – ich halte das für eine Schutzbehauptung derer, die das gerne so hätten. Togo, der durch ein geschlossenes Fenster sprang, dürfte zu Seppala gewollt haben. Und Seppala hätte, ohne eine Bindung zu Togo zu haben, ihm wohl kaum sein Leben anvertraut.
Balto lebte noch sechs Jahre im Zoo. Er war die Hauptattraktion. Ich hätte ihm gewünscht, dass er abends mit jemandem nach Hause gegangen wäre, aber es fand sich offenbar niemand, der bereit war, über den monetären Aspekt hinaus einen Wert in ihm zu sehen.
Nach seinem Tod wurde er ausgestopft und im Cleveland Museum of Natural History ausgestellt. Inmitten von Balto-Kaffeebechern, Balto T-Shirts und Plüsch-Baltos. Dort steht er heute noch.
Und Togo? Seppala verabschiedete sich 1929 von seinem Hund. Togo wurde an eine gewisse Elizabeth Ricker abgegeben. Ricker und Seppala hatten eine Siberian Husky Zucht in Maine etabliert und Togo soll – so der American Husky Verband – in fast jeder Ahnenreihe der heute in den USA lebenden Huskys irgendwo seine Pfote im Spiel gehabt haben. Er starb noch im selben Jahr.
Togo wurde auch ausgestopft. Für irgendeine Musher/Husky Ausstellung. Ich habe mir nicht gemerkt, welche. Es hat mich zu sehr deprimiert.
Hunde bringen das Beste und das Schlechteste im Menschen hervor. Allzu oft spiegelt sich die Erbärmlichkeit des Menschen in den Hunden. Und die Hunde spiegeln unsere Sehnsucht, weniger erbärmlich zu sein.
In unserer Welt brauchen die Hunde Menschen. Wir haben ihnen ihre Welt genommen; wir sind es ihnen schuldig, unsere Welt mit ihnen zu teilen.
Noch mehr aber brauchen die Menschen Hunde. Um in tiefer Dunkelheit das offene Wasser zu umgehen. Um jeden Tag daran erinnert zu werden, dass nur dieser Moment im Hier und Jetzt wirklich wichtig ist. Um zu verstehen, dass Verständnis keine Worte braucht. Um zu lernen, dass Macht über ein Leben zu haben, bedeutet, für dieses Leben verantwortlich zu sein.
Um das Beste, was in uns ist, zum Scheinen zu bringen.
Jan.
8
#MeToo, #MeTwo #und ich auch (13.08.2018)
Januar 8, 2025 | Allgemein | Leave a Comment
#MeToo
Haben Sie Lust, ein kleines Spiel zu spielen? Wir spielen „freie Assoziation“. Ich gebe Ihnen einen Begriff, und Sie sagen spontan, was Ihnen dazu einfällt. Fertig? Hier kommt der Begriff:
Harvey Weinstein
Liege ich richtig, dass auf Ihrer Liste der Assoziationsbegriffe weder Pulp Fiction, Der menschliche Makel, The Hateful 8, Der Vorleser, The Others, Sin City, Brothers Grimm noch Django Unchained zu finden sind? Oder Miramax? Oskar-Akademie? Lassen Sie mich raten: Steht auf Ihrer Liste sexueller Missbrauch oder Vergewaltigung? Weinstein-Skandal?
Der Weinstein-Skandal war Auslöser der #MeToo Debatte. Wäre die Verwendung des Hashtags mit einem tödlichen Virus einhergegangen, könnte man zwischenzeitlich eine erfreuliche Dezimierung der Weltbevölkerung verzeichnen (das ist nicht zynisch, nur Fakt: der Welt würde weniger Bevölkerung gut tun). Wobei me too bereits lange vor der Debatte existierte. 1996 leitete eine Frau namens Tarana Burke ein Jugendcamp. Ein junges Mädchen hatte kurz den Mut gefasst, ihr vom Missbrauch durch den Freund der Mutter zu erzählen, doch genauso schnell hatte das Mädchen den Mut auch wieder verloren. Burke schildert sehr berührend, wie das Mädchen sich von ihr entfernte „wie sie versuchte, ihr Geheimnis wieder einzufangen und in ihr Versteck zurückzulegen […] ich sah, wie sie ihre Maske wieder aufsetzte und in die Welt hinausging, als sei sie ganz allein – und ich fand nicht einmal die Kraft um ihr zuzuflüstern: Me too.“ 2006 wurde dann von Tarana Burke die me too Bewegung gegründet, die – so steht es jedenfalls auf ihrer Homepage – insbesondere unterprivilegierten farbigen jungen Frauen, die sexuelle Gewalt überlebt haben, einen Weg zur Heilung bieten sollte. Was durchaus Sinn macht. Opfer sexueller Gewalt empfinden zumeist Scham über das, was ihnen angetan wurde. Zu wissen, dass sie keineswegs alleine sind, dass es kein Einzelschicksal ist, das sie getroffen hat, noch dass sie gar eine Mitschuld an den Ereignissen tragen – das ist ein Weg zur Heilung. Und so steht es auch auf ihrer Homepage: Du bist nicht allein.
Zwölf Jahre nach Gründung der Bewegung durch Tarana Burke wurde das me too um einen Hashtag und große Anfangsbuchstaben ergänzt und im Zuge der Weinstein-Affäre hatte ich mich des Öfteren gefragt: who not? Die Opfer sexueller Übergriffe outeten sich im Sekundentakt – allerdings waren bemerkenswert wenige junge farbige Frauen aus unterprivilegieren Wohnvierteln dabei. Dafür reihenweise Damen der Gesellschaft, die sich vehement, wenn auch auf einer ganz anderen Zeitlinie als der des Geschehens, gegen ihre Peiniger wendeten. Wobei es doch viel naheliegender gewesen wäre, zum Zeitpunkt des Geschehens Anzeige zu erstatten, Spermaspuren und genitale Verletzungen dokumentieren zu lassen und den Peiniger der justiziellen Gerechtigkeit zu überantworten. Wenn es – wie bei den jungen Frauen, die bei Tarana Burke Schutz suchen – die Scham war, die sie zum Zeitpunkt der Tat schweigen ließ, so frage ich mich, wie es um die Dualität des Schamgefühls einer Frau bestellt sein muss, die sich der Polizei nicht anvertrauen mag, aber Millionen von Lesern auf Twitter. Es ist eine merkwürdige Welt.
Wobei es nur folgerichtig in dieser merkwürdigen Welt ist, dass die Geständnisse der missbrauchten Damen – also jener, von denen ich annehmen wollte, sie hätten sich durchaus auch weniger öffentlichkeitswirksam zum Opfer erklären können – Wirkung zeigten. Da Hollywood involviert war lag der Gedanke nahe, #MeToo in die Verleihung der Academy Awards 2018 einzubinden. Und da ging es dann richtig zur Sache: Nicht einer der Stars trug eine Robe von Marchesa. Um diese sensationelle Widerstandshandlung zu begreifen, müssen Sie wissen, dass Marchesa das Label von Harvey Weinsteins Ehefrau Georgina Chapman ist. Die gute Georgina hatte zwar im Oktober 2017 bereits ihre Trennung von dem ollen Lüstling bekanntgegeben und die Veranstaltung fand im April 2018 statt – selbst in Hollywood, wo sich Gerüchte eher langsam verbreiten, müsste ausreichend Zeit gewesen sein, diese Tatsache zur Kenntnis zu nehmen – aber dennoch: im Zuge der Sippenhaft waren die Stars auf dem roten Teppich sich einig, keine Klamotten von der Frau, deren Mann sexuelle Übergriffe vorgeworfen wurden, zu tragen. Wozu auch – es gibt massenhaft Designer, die ebenfalls tiefe Dekolletees und hohe Beinschlitze zu bieten haben. Nicole Kidmann „glänzte in Blau“ (Bunte) und die riesige Schleife um die Hüfte wies mehr oder weniger dezent auf das Schmuckkästchen der guten Nicole hin. Und: Jawoll, ja, Nicole, das war eine sexistische Bemerkung. Beschwer dich bei #MeToo.
Frances McDormand – die ich seit Fargo eigentlich sehr mochte – überzeugte in einer freien Interpretation von #MeToo und forderte die Frauen im Saal auf, aufzustehen und einen Passus in ihre Verträge schreiben zu lassen, der ihnen den Ausstieg aus einem Filmprojekt ermöglicht, wenn die Produktion zu männerlastig ist. Warum das im Stehen geschehen soll, ist mir ein Rätsel.
Und dann gab es noch den Moderator der Show, der grenzhumorig bemerkte, der Oskar sein ein klasse Typ – er habe die Hände dort, wo man sie sehen kann und keinen Penis. Nur ein Mann ohne Penis ist ein guter Mann? Da bin ich klar abweichender Meinung.
Zurück zu Weinstein. Zwischenzeitlich befinden wir uns im August im Jahre des Herrn 2018 (diese Formulierung gehört dringend abgeschafft – viel zu männerlastig) und in New York läuft der Prozess gegen Harvey Weinstein. Eventuell nicht mehr lange, denn der Verteidiger von Weinstein hat der Jury E-Mails der Frauen vorgelegt, die die Vergewaltigungsvorwürfe erhoben haben. Die sind tatsächlich erklärungsbedürftig. So schreibt eine Frau, die angeblich im April 2013 von Weinstein vergewaltigt wurde im August 2013: „Hoffe, es geht Dir gut, und rufe mich jederzeit an; immer gut, Deine Stimme zu hören“ und im Oktober: „Ich war so glücklich, dass Du mich heute getroffen hast“. Diese Nachtigall trapst nicht, die trampelt. Und im Februar 2017 erklärt das Vergewaltigungsopfer: „Ich liebe Dich, das habe ich immer getan. Aber ich hasse es, mich wie eine bloße Sexgeschichte zu empfinden :-).“ Offenbar hasst sie nicht nur sich selbst, sondern den guten Harvey noch viel mehr.
Wie so vieles von unseren amerikanischen Freunden ist auch #MeToo in Deutschland begeistert aufgenommen worden. Allerdings mehr im Sinne von McDormand als von Burke. Manchmal auch komplett sinnentleert. Den absoluten Tiefpunkt hatte die Debatte mit der SPD-Politikerin Sawsan Chebli erreicht, die ob der Ansprache eines Ex-Diplomaten und evangelischen Bischofs „Ich habe keine so junge Frau erwartet. Und dann sind Sie auch so schön“ laut ihrer Facebook Seite „unter Schock – Sexismus“ war. Wer diesen Schock nicht nachvollziehen kann, dem hilft die Süddeutsche (eines meiner Lieblingsblätter) und erklärt dem unbedarften Leser, „dass Frauen wie Sawsan Chebli viel häufiger als Männer auf ihr Aussehen reduziert, danach beurteilt und fachlich nicht ernst genommen werden“. Neugierig wie ich bin, habe ich mir das reduzierte Aussehen der Frau Chebli von Google- Bilder vor Augen führen lassen und stelle fest, dass die Dame einen Hang zu engen Blusen und wehenden Haaren hat. Und wage die kühne Behauptung, dass Frau Chebli sich über dieselbe Bemerkung, wäre sie von George Clooney gekommen anstatt von einem alternden Bischof, eventuell nicht so echauffiert hätte. Und warum einer Staatssekretärin nicht einfällt, mit der Bemerkung „das ist nur ihr subjektiver Eindruck, weil sie so alt und – nun ja – sind“ zu kontern, erschließt sich mir auch nicht. Jedenfalls hat sich das alternde Bischoflein öffentlich entschuldigt. Schade eigentlich. Ich hätte mir gewünscht, dass er öffentlich erklärt, seine Einschätzung der Frau Chebli sei voreilig gewesen – sie sei zwar einigermaßen attraktiv, hätte aber gerade ein ziemlich hässliches Gesicht gezeigt.
Ich kann den Wunsch, von der Umwelt als attraktiv wahrgenommen zu werden, durchaus nachvollziehen. Was ich nicht nachvollziehen kann, ist, wie Frauen inzwischen „attraktiv“ definieren. Wo die Generation meiner Mutter noch öffentlich BHs verbrannt hat und mit fröhlich hüpfenden Brüsten durch die Gegend gesprungen ist, schnallt sich die Generation meiner Enkelin dieselben bis unters Kinn. Wenn ich im Ärzteblatt lese, dass die Zahl der Schönheitsoperationen stetig zunimmt und an erster Stelle die Brustvergrößerung steht (auf die gespart (!) wird) frage ich mich, ob die alle in der Pornoindustrie arbeiten oder was zum Teufel mit denen los ist. Junge Mädchen um die 20 laufen mit aufgespritzten Lippen und Brüsten durch die Gegend – die Wimpernverlängerung nicht zu vergessen – reduzieren sich auf ein Sex-Objekt und wundern sich, wenn sie als solches wahrgenommen werden. Ich persönlich würde ja annehmen wollen, dass Männer ein herzhaftes Lachen bei einer Frau ebenso attraktiv finden, wie umgekehrt. Aber wenn das Botox so spannt… Ist vielleicht – verzeihen Sie den ketzerischen Gedanken – die öffentliche Mitteilung, frau sei so sexy, dass schon wieder einer dieser lüsternen Kerle nicht widerstehen konnte, so etwas wie eine Auszeichnung?
#MeTwo
Wie bitte? Was? #Ich Zwei? Soll heißen, die dissoziative Identitätsstörung beendet ihr Schattendasein und fordert gesellschaftliche Anerkennung? Eigener Rentenanspruch der Subpersönlichkeit? Wie geil ist das denn. Dachte ich. Ich lag völlig falsch.
#MeTwo erscheint mir etwas bizarr. Oft geht es um Menschen, denen bescheinigt wird, sie seien der deutschen Sprache überraschend gut gewachsen – was angesichts des absolut bescheuerten Hashtags verwundert – die darob schwer beleidigt bis verzweifelt sind. Weil diese Äußerung impliziert, dass man dem Sprechenden, bevor er den Mund aufmachte, nicht zugetraut hatte, fehlerfreies (mehr oder weniger) Deutsch zu sprechen. Und zwar aufgrund des migrationsmäßig gefärbten Äußeren des Sprechenden. Das sei nun eine Sauerei, rassistisch und diskriminierend. Ich würde ja eher dazu tendieren, die Leute für Idioten zu halten, die meinen, dass jeder Mensch auf der Welt völlig selbstverständlich Deutsch zu sprechen hat. Oder? Wobei tatsächlich festzustellen ist, dass sogar Migranten der zweiten Generation oft noch ein Deutsch sprechen, bei dem sich die Fußnägel aufrollen. Was daran liegen mag, dass nach einem Arbeitspapier des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge bei 44,8% der befragten Ausländer in der Familie in der Muttersprache bzw. der Herkunftslandsprache gesprochen wird. Nur eine Minderheit spricht Deutsch, etwa ein Drittel einen Mix aus Muttersprache und Deutsch. Insofern hätte ich erwartet, bei Twitter reihenweise Erlebnisberichte zu finden, in denen Migranten und solche, die so aussehen, blöd angepampt wurden, doch endlich richtiges Deutsch zu lernen. Finde ich aber nicht. Dafür finde ich etwas Anderes:
Sawsan Chebli @SawsanChebli
Dass #Özil geht, ist ein Armutszeugnis für unser Land. Werden wir jemals dazugehören? Meine Zweifel werden täglich größer. Darf ich das als Staatssekretärin sagen? Ist jedenfalls das, was ich fühle. Und das tut weh.
Ja, genau. Die Bischof-Chebli.
Wissen Sie – ich sitze jetzt seit fast einer halben Stunde vor diesem Tweet und würde ihn gerne kommentieren. Alleine – mir fehlt das psychiatrische Fachwissen.
Chebli legt nach:
Bekomme seit diesem Tweet Schreiben, auch heute wieder, in denen ich aufgefordert werde, mein Amt niederzulegen. Ich sei unverschämt, undankbar. Die Leute kapieren nicht, wie schmerzhaft es vor allem für einen selbst ist, solche Zweifel zu äußern. #MeTwo
Doch, Süße, ich verstehe. Das muss schmerzhaft sein. Wenn man es einfach nicht kapiert. Ich versuche es jetzt mit aller Geduld, die ich aufbringen kann, zu erklären: Zwei Seelen wohnen, ach! in meiner Brust, Die eine will sich von der andern trennen; Die eine hält, in derber Liebeslust, Sich an die Welt mit klammernden Organen; Die andere hebt gewaltsam sich vom Dust Zu den Gefilden hoher Ahnen. Goethe, Faust I. Schon etwas älter. Und es geht nicht um Migranten, hat aber durchaus mit dem Thema zu tun. Unser Thema heißt Dualismus. Und damit es nicht ganz so einfach wird, nehmen wir dieses diffuse Gefühl des „dazu-gehören“ gleich mal mit auf.
Die Urform des „dazu-gehören“ ist wohl das ozeanische Gefühl; dieses überwältigende „wissen“ eins mit dem Ganzen zu sein. In einer stillen Nacht zu den Sternen zu sehen und zu fühlen, dass jedes Atom im Körper nur ein Teil des gewaltigen Tanzes aller Atome ist. Dass wir Sternenstaub sind. Nun – wenn man Freud, dem alten Kokser, folgen will, ist dieses Gefühl zutiefst infantil und nimmt mit zunehmendem Bewusstsein des „Ichs“ proportional ab. Was bleibt – denke ich – ist eine Sehnsucht nach dem ozeanischen Gefühl. Mit dem Erwachsen-werden kommt die Einsamkeit. Insofern gehört niemand zu niemandem. Wir sind alle alleine unterwegs auf der Suche nach Nähe.
Wie bekommt man ein Gefühl der Nähe? Durch a) Liebe und b) Anerkennung.
Liebe: Kennen Sie diese Beziehungen, in denen man sich relativ Knall auf Fall in jemanden verguckt hat und nun das „zusammen sein“ erprobt? Und dann kommt dieser Moment, in dem man sich mit einer vorgeschobenen Unterlippe konfrontiert sieht und ein weinerliches „du liebst mich gar nicht“ wie Säure das wohlige Gefühl des beisammen seins zersetzt. Sie versuchen es mit „natürlich liebe ich dich“, um „das sagst du nur so“ zu hören. Oft gefolgt von „wenn du mich lieben würdest“ im Zusammenhang mit einer unverschämten Forderung. Das ist der Moment in dem Enola Gay Little Boy auf ihre aufkeimende Liebe abwirft. Und ein schönes Beispiel für self-fulfilling accusation.
Jetzt kommt der kühne Sprung: dasselbe Prinzip setzt bei mir ein – und ich kann mir nicht vorstellen, dass ich diesbezüglich eine Einzelstellung innehabe – wenn mir jemand vorwirft, ich sei mit seiner Handlung alleine deshalb nicht einverstanden, weil er einer anderen Ethnie angehört. Eventuell bin ich damit ja nicht einverstanden, weil ich ihn auf einer rein menschlichen Ebene verachtenswert finde. Soll vorkommen.
Wie im Fall Mesut Özil. Womit wir bei b), Anerkennung angekommen wären und ich mir erlaube, in diesem Zusammenhang das von Frau Chebli bemühte „Armutszeugnis“ des Abgangs von Mesut Özil genauer zu betrachten.
Ich rekapituliere: Am 14. Mai 2018 erscheinen Fotos von Mesut Özil und Ilkay Gündogan in trauter Eintracht mit Recep Tayyip Erdogan. Und Ilkay schenkt Recep bei der Gelegenheit gleich noch ein Trikot mit persönlicher Widmung. Ich weiß nicht, ob der Recep sich gefreut hat, so ein rassistisches Trikot aus dem Rassisten-Deutschland zu bekommen, aber darauf kommt es jetzt auch nicht an.
Wer sich definitiv nicht freut, ist Reinhard Grindel, der die Ansicht vertritt, am Tag vor der Bekanntgabe des deutschen Kaders für die Weltmeisterschaft sollten seine Nationalspieler sich eher der Mannschaft zuwenden, als Herrn Erdogan im Wahlkampf zu unterstützen. Woraufhin Ilkay ganz treu-doof via Instagram erklärt: „Es war nicht unsere Absicht, mit diesem Bild ein politisches Statement abzugeben.“ Nun gut – was denn dann? Höchst vorsorglich im Mai schon mal das Motiv für die Weihnachtspostkarte aufnehmen? Rätselhaft.
Mit mir rätseln nicht allzu viele Menschen – die Mehrzahl (jedenfalls jene, die dazu tendieren, ihre Ansichten öffentlich zu äußern) finden die Aktion nicht so wirklich gelungen. Was daran liegen könnte, dass der staatsmännische Ruf des Recep Erdogan nicht ganz makellos ist. Wenn man – mit aller gebotenen Vorsicht – der Berichterstattung Glauben schenken will, hat Herr Erdogan gewisse Anpassungsprobleme an Recht und Gesetz. Und wenig Hemmungen, selbige recht frei auszulegen, wenn es seinem ureigensten Interesse nützlich ist. Was also hat Gündogan und Özil dazu getrieben, Herrn Erdogan öffentlich zu poussieren? Natürlich klein b. Anerkennung. Özil erklärt es uns.
Auszug aus der Rücktrittserklärung von Mesut Özil:
Wie bei vielen anderen Menschen geht meine Abstammung auf mehr als nur ein Land zurück. Ich bin in Deutschland aufgewachsen, meine familiären Wurzeln liegen aber in der Türkei. Ich habe zwei Herzen, ein deutsches und ein türkisches. Während meiner Kindheit hat mich meine Mutter gelehrt, immer respektvoll zu sein und nie zu vergessen, wo ich herkomme.
Für mich ging es bei einem Foto mit Präsident Erdogan nicht um Politik oder um Wahlen, sondern darum, das höchste Amt des Landes meiner Familie zu respektieren.
Aber wenn hochrangige DFB-Offizielle mich so behandeln, wie sie es getan haben, meine türkischen Wurzeln nicht respektieren und mich aus selbstsüchtigen Gründen für politische Propaganda benutzen, dann ist genug genug.
Ich wurde in Deutschland geboren und erzogen, also warum akzeptieren die Menschen nicht, dass ich Deutscher bin?
Weil, Mesut, kein Deutscher, der noch halbwegs bei Verstand ist, einen Diktator im Wahlkampf unterstützt und gleichzeitig „hochrangigen DFB-Offiziellen“ den Vorwurf macht, sie hätten ihn „aus selbstsüchtigen Gründen für politische Propaganda benutzt“. Und ernsthaft behauptet, ein gemeinsames Foto im Wahlkampf sei völlig unpolitisch und lediglich dem Respekt für das höchste Amt des Heimatlandes der Mutter geschuldet. Das fällt nur einem Türken ein. Wobei diesem speziellen Türken zumindest die Anerkennung vom Inhabers des höchsten Amtes im Heimatland der Mutter sicher war. Erdogan begrüßte Özils Rücktritt aus der deutschen Nationalmannschaft und nannte es inakzeptabel, „einen jungen Mann, der alles für die deutsche Nationalmannschaft gegeben hat, wegen seines religiösen Glaubens so rassistisch zu behandeln“. Wegen was bitte? Wegen seines religiösen Glaubens? Der Özil ein Märtyrer des Glaubens an Erdogan? Eine leicht ins Narzisstische tendierende Sicht der Dinge. Tatsache ist doch, dass, wenn man sich in zwei Welten, die so diametral verschieden sind (was nicht zuletzt das Zitat Erdogans zeigt), auf eine Seite schlägt, gewiss ist, dass der Applaus nicht von beiden Seiten kommen kann. Womit wir beim Dualismus wären.
Psychologie für Anfänger: duale Gefühle machen einem das Leben verdammt schwer. Wenn ich für einen Menschen reinen Hass oder reine Liebe empfinde, komme ich auf beides klar. Virulent wird die Sache, wenn ich einen Menschen sowohl hasse als auch liebe. Das wird in aller Regel zu schweren Konflikten mit mir selbst führen. Und kein Kampf ist so aufreibend, wie der gegen sich selbst. Dieser Dualismus-Problematik sind Migranten in besonderem Maße ausgesetzt. Kennen Sie John Irvings Zirkuskind? Dr. Daruwalla, der indische Arzt in Kanada, den die Sehnsucht immer wieder nach Indien treibt und der in Indien immer wieder feststellt, dass er sich in diesem Land nicht mehr heimisch fühlen mag. Es könnte sein, dass die Entwurzelung ein Kraftakt für die Seele ist, der überfordert. Nach meinem Verständnis könnte die Heilung nur darin bestehen, neue Wurzeln zu schlagen. Sich neu zu erfinden; neu zu definieren. Aus Freiheit heraus. Der Schmelztiegel Amerika (oder auch Australien) hat relativ (relativ – für die, die bereits vor der Invasion dort waren, ist es nicht so gut gelaufen) gut funktioniert, weil die Menschen sich nicht als Italo-Amerikaner, Indisch-Amerikaner oder Griechisch-Amerikanisch bezeichnet haben, sondern als Amerikaner. Land of the free, home of the brave. Ist es ein Zufall, dass die Afro-Amerikaner bis heute rassistisch schikaniert werden? Ist das nur die böse Saat der Kolonialvergangenheit? Oder formt die Sprache die Wahrnehmung? In „ihr“ und „wir“. „Deutsch-Türken“. Und doch ist letzterer Begriff der einzig zutreffende, wenn der so angesprochene für sich in Anspruch nimmt, man habe den Türken in ihm ebenso zu respektieren, wie den Deutschen. Und der Türke macht eben Dinge, die man als Türke so macht. Wer das nicht akzeptiert, ist Rassist. Und nun? Wollen wir es künftig in der politisch korrekten sprachlichen Verknotung Deutscher m.t.A.u.e.F (mit türkischer Attitude und eingebautem Freifahrtschein) nennen? Das m.t.A.u.e.F. kann man ja mit verschämt abgewandtem Kopf leise vor sich hin nuscheln. Und wollen die Betroffenen überhaupt als duale Persönlichkeiten wahrgenommen werden? Was Chebli und Özil betrifft ist die Antwort ein klares Ja. Inklusive Verständnis für ihre überaus schwierige Situation, sich weder hier noch dort zugehörig zu fühlen. Wobei jedes verbalisieren dieser speziellen Situation (sofern es nicht vom Deutsch-Türken selber kommt) Ausdruck eines diffusen Rassismus ist. Außer – es dient der Bevorzugung. Die SPD hat sich ganz klar zu der Forderung der türkischen Gemeinde nach einer Migrantenquote in den Parteien bekannt. Frau Chebli ist Staatssekretärin der SPD. Ich vermute – angesichts der Qualität der Äußerungen von Frau Chebli – dass sie den Job ihrer ethnischen Herkunft zu verdanken hat. Allerdings habe ich noch keinen Tweet von ihr gefunden, in dem sie sich beschwert, dass sie den Job nicht aufgrund ihrer Fähigkeiten, sondern ihrer türkischkeit bekommen hat. Was doch irgendwie auch eine Form von Rassismus ist. Nur eben eine gute. Und sehr gut bezahlt.
Und was ist mit denen, die das nicht so empfinden? Die gibt es. Man wundert sich. Die twittern auch unter dem Hashtag #MeTwo. So zum Beispiel Wauderkelch:
Die Debatte ist bescheuert. Ich habe slawische Wurzeln, mein Vater war ein Flüchtling. Wegen meines slawischen Namens wurde ich in der Schule gehänselt. Auch von Lehrern. Waren das jetzt alles Rassisten? Niemals. Blöd waren die. Aber rassistisch. Nein. Hört mit dem Mist auf #MeTwo
Oder Bilgili Üretmen:
Fakt ist, ausserhalb von Facebook lebe ich mit den Deutschen im Einklang. Nichtmal 2% des Rassismus der mir in den sozialen Medien entgegenschlägt, begegnet mir im Alltag. Deshalb weigere ich mich auch die Deutschen pauschal Rassisten zu nennen Es sind die Medien! #MeTwo
Die kriegen Druck. Denn auf #MeTwo soll nicht diskutiert werden – klare Ansage kommt von Mehmet Daimagüler:
#metoo #MeTwo – Kritiker: Wenn man von einem Thema so gar keine Ahnung hat oder es mit der Empathie hapert: Könntet ihr nicht einfach mal die Klappe halten? Und einfach mal ZUHÖREN?
Schon klar, Herr Daimagüler. Klappe halten, Zuhören (in Großbuchstaben, was ich immer als das schriftliche Äquivalent zum Angeschrien-werden empfinde). Ich wundere mich, dass ihn beim Tippen von „Empathie“ kein Blitzschlag aus dem Himmel niedergestreckt hat. Wie kann jemand, der so grob unhöflich, selbstherrlich und aggressiv auftritt, anderen Menschen mangelnde Empathie vorwerfen? Es erinnert mich fatal an die Rassismus-Vorwürfe Erdogans an Deutschland. Kürzlich fragte die Süddeutsche in einer Umfrage, ob ich es für möglich halte, mit Muslimen gedeihlich zusammenzuleben. Kommt auf die Muslime an. Wenn sie so auftreten wie Herr Daimagüler – eher nicht.
UndIchAuch
Wenn Sie sich jetzt fragen, – oberflächlich betrachtet eine berechtigte Frage – warum ich mich mit diesen Themen, die mich persönlich überhaupt nicht betreffen, beschäftige, so ist die kurze Antwort: Quantenphysik. Eine These der Quantenphysik lautet kurzgefasst (ich würde es begrüßen, wenn Sie sich näher mit dem Thema beschäftigen würden) dass es ein „Meer der Möglichkeiten“ gibt; dass unendliche viele Realitäten quasi im Schwebezustand gleichzeitig existieren und ausschlaggebendes Element das Bewusstsein des Beobachters ist, das aus diesen Möglichkeiten die eine tatsächliche Realität entstehen lässt. Wenn das so wäre, würden tatsächlich innere Vorgänge die äußere Welt massiv beeinflussen. Und zwar die gesamte Welt – in der auch ich leben muss. Deshalb interessieren mich die MeToo/Twos [mitutus].
Selbstverständlich ist die These der alternierenden Quantenrealitäten umstritten. Ich gehe davon aus, nicht zuletzt deshalb, weil die Anerkennung des Prinzips dem Anerkennenden das Leben – kurz gedacht – nicht gerade erleichtert. Für die Folgen des eigenen Handelns einstehen zu müssen, ist – nicht zuletzt durch das Marodieren der Akteure im virtuellen Raum- schon lange kein allgemeines Prinzip mehr. Wenn noch hinzutritt, dass kein Schuldiger für das beklagenswerte Schicksal ausgemacht werden kann, weil die Verantwortung für dieses Schicksal der davon Getroffene trägt – dieser Gedanke dürfte den Mitutus zutiefst zuwider sein.
Und so verbalisieren die Mitutus weiter ungebremst ihre Gefühle in die Welt und was da getrieben wird, ist streckenweise geistige Brandstiftung. Mit den entsprechenden Reaktionen. Feuer mit Feuer zu bekämpfen ist nur bei einem Waldbrand eine gute Idee. Was dort – wie hier – übrigbleibt, ist verbrannte Erde.